In diesem Blog erkläre ich, wie die madagassische Bevölkerung Krankheiten im Allgemeinen wahrnimmt und warum es AiNA soa gibt. Die meisten Menschen entscheiden sich für eine Schulung bei AiNA soa, weil sie bisher noch kaum etwas über Erste-Hilfe-Massnahmen wissen. Dies wird durch den Wissenstest bestätigt, den wir vor jeder Schulung durchführen. Wenn Teilnehmende in dieser Befragung Antworten geben, die auf den Beginn des letzten Jahrhunderts zurückgehen, ist man meist sprachlos. Dann wird einem bewusst, dass die kommenden Kurs-Stunden nicht einfach sein werden.

Eine kleine Anekdote, die mich auf die richtige Spur brachte

Mein Name ist Tsito, ich bin Arzt und Erste-Hilfe-Instruktor bei AiNA soa. Vor etwa zehn Jahren habe ich im Rahmen meiner Doktorarbeit in der rheumatologischen Abteilung eines der grössten Krankenhäuser Madagaskars untersucht, wie Patienten mit chronischen Krankheiten ihre Krankheit wahrnehmen. Ich wollte meine Karriere auf die medizinisch-therapeutische Patientenaufklärung ausrichten. Mich bewegte die Geschichte eines Mannes, dessen Frau an einer besonderen Form des systemischen Lupus erythematodes (SLE) litt, einer Autoimmunerkrankung, die ihr Gesicht zu einem Mosaik verformte. Dieser Mann weinte vor mir auf dem Krankenhausflur, er war sehr verzweifelt. Aber er wendete sich an mich, weil er eine Frage hatte: „Herr Doktor, ich komme aus einem abgelegenen Dorf, in dem meine Frau bei weitem die schönste war. Alle Männer wollten sie, aber sie hat sich für mich entschieden. Ist sie von einem Fluch befallen? Ist sie verhext worden?“

Von diesem Moment an wollte ich wissen, wie und warum Patienten so weit gingen, sich eine mystische Dimension ihrer Krankheit vorzustellen.

Bild 1: Universitätsklinikum JRB, Antananarivo.

Traditionelle Vorstellung von Krankheit in Madagaskar

Vor dem 20. Jahrhundert verfügten die Madagassen sicherlich nur über ein auf Erfahrung beruhendes Wissen über die Physiologie und das Wirken von Organen. Für sie kann die Seele, die den Menschen ausmacht, zusammen mit dem Körper und dem Geist, durch böse Geister oder Zauber entfernt werden, was zu Krankheit und Tod führt. Alle Krankheiten würden also von bösartigen Wesen aus unserer Welt oder aus einer unsichtbaren Welt verursacht.

Die therapeutischen Prinzipien der Madagassen bestanden darin, die Seele daran zu hindern, den Körper zu verlassen, sie zurückzubringen oder den Körper aus dem Griff böser Kräfte zu befreien. Die Madagassen behandelten Krankheiten mit Elementen aus den drei Reichen (Pflanzen, Tiere und Mineralien), begleitet von speziellen Riten, die von einem bestimmten Heiler vorgeschrieben wurden. Das Prinzip hinter der Verwendung von Produkten, die ebenso unrein wie seltsam sind, ist die Überzeugung, dass das beste Heilmittel dasjenige ist, das den grössten Schrecken hervorrufen kann.

Auszüge aus einer medizinischen Dissertation von 1901 (Ramisiray Gershon. Pratiques et croyances médicales des Malgaches [Thèse]. Antananarivo: s.n., 1901) :

  • Knochenbrüche werden immer durch Hexerei und bösen Zauber verursacht. Heiler weisen darauf hin, was zu tun und was zu vermeiden ist. Für die Behandlung wird ein Mittel auf der Grundlage von Tierknochen verabreicht, insbesondere von Tieren, die nie brechen.
  • Bei Verrenkungen und Verstauchungen wird Rattenkot verwendet.
  • Für schwere Verbrennungen hat der Autor die Praktiken in der folgenden Reihenfolge aufgelistet: eine Schicht Fett über der Verbrennung oder Frauenschmiere als Salbe, oder Waschen mit Salzwasser.
  • Für Wunden werden Spinnennetze verwendet oder die zerkauten Blätter einer bestimmten Pflanze aufgetragen.
  • Bei Fussverletzungen wurde auf die Füsse uriniert.
  • Im Falle einer Blutung nahmen unsere Vorfahren einen brennenden Feuerbrand und brachten ihn so nah wie möglich an die klaffende Wunde.
  • Bei Insektenbissen oder -stichen wurde Nasenschleim aufgetragen.
  • Einige Krankheiten werden als „teuflisch“ eingestuft, vor allem Epilepsie. Die Madagassen glauben, dass dies eine ansteckende Krankheit ist, die durch Speichel übertragen wird. Um eine Ansteckung zu vermeiden, werfen die Anwesenden in respektvollem Abstand grünes Gras oder den kleinen Kranz, den die Frauen zum Tragen von Lasten verwenden, auf die kranke Person. Um Krampfanfällen vorzubeugen, verbrennen die Madagassen eine Krähenfeder und ein Stück eines speziellen Holzes und lassen den Kranken die Asche (mit Wasser) trinken.

Heutiges Verständnis von Krankheiten

Heutzutage, während die meisten Patienten ihre Krankheit auf eine Funktionsstörung des Körpers zurückführen, die durch die Wissenschaft erklärt wird, wird von vielen Madagassen immer noch ein göttlicher Wille oder Hexerei unterstellt. Verschiedene Faktoren bestimmen die Wahrnehmung des Einzelnen von Krankheit: Kultur, Religion, Bildungsstand, gesellschaftlicher und beruflicher Status sowie das Umfeld, zum Beispiel Geschichte und Politik. In Madagaskar sind auch heute noch auf Erfahrungswerten beruhende Therapien, die von einem Heiler angewandt werden, in der Erstversorgung üblich. Dies ist unter anderem auf die schwierige Erreichbarkeit und finanziellen Zugang zur medizinischen Versorgung zurückzuführen. Die grosse Entfernung zu einem Gesundheitszentrum beeinflusst Patienten, ihre Wahrnehmung der Krankheit und die Wahl der Behandlung erheblich.

Vorurteile und Verzerrungen der alten Praktiken

Während im Jahr 2024 immer mehr Menschen das Internet nutzen, die künstliche Intelligenz immer ausgefeilter wird und der Austausch und Zugang zu Wissen immer besser wird, scheinen die Menschen ihr Verhalten im Krankheitsfall noch nicht gänzlich geändert zu haben.

  1. In einer Gruppe für junge Eltern, in sozialen Medien in Madagaskar, kann man lesen was zu tun ist, im Fall von:
  • Verbrennung: darauf urinieren oder Zahnpasta, Speichel, Mehl, geriebene Kartoffel usw. verwenden.

Bild 2: Verbrennungen, auf die Mehl aufgetragen wurde

Bild 3:  verbranntes Bein, auf das Zahnpasta aufgetragen wurde

  • Krampfanfall: Verbrennen Sie ein Chamäleon und trinken Sie die Asche (mit Wasser) oder geben Sie dem Kind Kaffee (wenn das Opfer ein Kind ist)
  • Insektenbiss oder -stich: Frauenschleim als Salbe auftragen.
  • Verrenkungen und Verstauchungen: Katze oder Larven essen.

2. In unseren Schulungen erhalten wir oft die gleichen Antworten von den Teilnehmern.

  • Frisches Hühnerblut für Blutungen
  • Speichel für Verbrennungen
  • Grünes Gras auf die Person werfen, die einen (epileptischen) Anfall hat
  • Die Person auf den Kopf stellen, wenn sie ertrinkt

Wir merken, dass wir in unseren Erste-Hilfe-Schulungen noch stärker auf die Handhabungen eingehen sollten, die mit Mystik oder Kultur zu tun haben, welche die Teilnehmenden einbringen. Dadurch fördern wir die Bedeutung von Bildung und das Bewusstsein, diese gefährlichen Überzeugungen zu korrigieren.
Dabei müssen wir aber auch bedacht sein, die bestehende Kultur bei uns zu achten und wertzuschätzen. Es ist wichtig, dass wir klare Informationen über die spezifischen Fälle geben, die wir unterrichten, eine einfache, aber präzise Antwort geben und vor allem den Lernenden verständlich machen, warum wir wie handeln. Besonders dieser letzte Punkt hat es AiNA soa ermöglicht, sich von anderen Anbietern von Erste-Hilfe-Schulungen zu unterscheiden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass AiNA soa hart daran arbeitet, die Erste-Hilfe-Praktiken der Menschen zu aktualisieren und zu korrigieren. Wir veranstalten kostenlose Erste-Hilfe-Schulungen in abgelegenen Gebieten, erreichen mehr Menschen durch Fernsehsendungen und viele Projekte für andere Zielgruppen, einschliesslich Kinder, werden noch entwickelt. Es ist unser grosses Anliegen und Ziel, eine noch grössere Wirkung in unserer Gesellschaft zu erzielen.

Liebe Grüsse aus Madagaskar,

Tsito, Arzt und Erste-Hilfe-Instruktor