In einer Welt, in der Geld scheinbar den Verlauf unseres Lebens bestimmt, ist es schwer, sich nicht mit Armut auseinander zu setzen. Was bedeutet es wirklich, arm zu sein? Dieses Wort, beladen mit Emotionen, Urteilen und unsichtbaren Geschichten, geht weit über einen einfachen Mangel an Geld hinaus.

Armut wird oft als Schicksal angesehen, ist aber mehr als eine Zahl oder ein Status. Sie ist das Ergebnis einer komplexen Kombination von Faktoren – sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen. Die Frage „Warum Armut?“ zu stellen, bedeutet zu versuchen zu verstehen, was hinter den äusseren Erscheinungen steckt. Es geht nicht darum, zu urteilen, sondern zu reflektieren. Nicht anzuklagen, sondern zu lernen.

Madagaskar: ein Land, das reich und arm zugleich ist

Laut der Weltbank gehört Madagaskar zu den zehn ärmsten Ländern der Welt. Im Jahr 2023 lebte fast 75 % der Bevölkerung von weniger als 2,15 $ pro Tag – der Schwelle für extreme Armut. In ländlichen Gebieten ist die Situation noch kritischer. (1)

Niemand kann sich aussuchen, wo er geboren wird. In einem instabilen Land, in eine Familie ohne Ressourcen geboren zu werden, bedeutet, das Leben mit mehreren Schritten im Rückstand zu beginnen. Und doch ist Madagaskar reich an natürlichen, kulturellen und menschlichen Ressourcen. Aber diese Reichtümer sind nicht genug: Ohne ein gerechtes System kommen sie nur einigen wenigne zugute. Armut hat hier nichts mit «Faulheit» zu tun – sie hängt oft mit der Umgebung, dem Kontext und den vielen Barrieren zusammen, die ein ganzes Volk zurückhalten.

Intellektuelle Armut: Ein anderes Gesicht der Entbehrung

Armut ist nicht auf finanzielle Not beschränkt. Eine andere, meiner Meinung nach weniger betonte Form, ist die intellektuelle Armut – der Mangel an Zugang zu Wissen, Bildung und wichtigen Informationen.

Bei AiNA soa haben wir uns entschieden, aktiv zu werden, indem wir die Bevölkerung in grundlegender Erster Hilfe ausbilden. Diese einfachen Handgriffe können Leben retten, doch viele Madagassen sind immer noch nicht mit ihnen vertraut.

Ein Beispiel: Bei einer Verbrennung sollte die betroffene Stelle sofort für 15 bis 20 Minuten unter kaltes Wasser gehalten werden. Doch in mehreren Regionen ist es üblich, Zahnpasta, Mehl, Speichel oder sogar Urin aufzutragen. Diese Praktiken, die oft über Generationen weitergegeben werden, können die Verletzung sogar verschlimmern.

Ungleicher Zugang zu Wissen

Klassenzimmer im ländlichen Vangaindrano

Die Kluft zwischen modernem Wissen und traditionellen Praktiken verdeutlicht das Bildungsdefizit, das in vielen Regionen weiterhin besteht. Ob in städtischen oder ländlichen Gebieten, täglich sehen wir, wie sich der Mangel an zuverlässigen Informationen auf die Gesundheit und die menschliche Würde auswirken.

Im Bezirk Vangaindrano, 800 km von der Hauptstadt Antananarivo entfernt, ist AiNA soa seit 2017 aktiv. Acht Jahre Engagement haben uns gezeigt, wie gross die Herausforderung ist: Der Mangel an zugänglichen Bildungsstrukturen, der Mangel an Ausbildern und die geografische Entfernung isolieren die Gemeinschaften vom Wissen. In diesem Kontext verlassen sich die Menschen noch immer auf altes, manchmal ineffektives oder veraltetes Wissen.

Das Ziel ist nicht, traditionelles Wissen zu verwerfen, sondern es zu bereichern. Wissenschaftlich fundierte Alternativen anzubieten. Bildung ohne Zwang. In einen Dialog treten, statt zu korrigieren. Denn wahre Transformation entsteht aus dem Zusammenspiel von Respekt für Tradition und Zugang zu aktuellem Wissen.

Training um zu Befähigen

Dorf im ländlichen Vangaindrano

Jede Handlung, die wir erlernen, jede Idee, die wir weitergeben, kann unser tägliches Leben verändern.

Die Mission von AiNA soa ist klar: jedem Menschen, auch in den abgelegensten Gebieten, die Möglichkeit zu geben, sich zu schützen, zu handeln und sein Wissen weiterzugeben. Denn Bildung bedeutet, die Samen von Autonomie und Würde zu säen.

Armut lässt sich nicht auf Statistiken reduzieren. Sie hat Gesichter, Stimmen und Geschichten. Ihre Wurzeln zu verstehen, ist der erste Schritt zum Handeln. Und Handeln bedeutet, anzuerkennen, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Ausgangssituation, das Recht auf ein würdevolles Leben hat.

Die Weitergabe von Grundwissen ist bereits ein kraftvoller Akt gegen Armut. Und jeder kleine Schritt zählt. Gemeinsam können wir mit jeder kleinen Geste eine gerechtere, menschlichere Zukunft für Madagaskar schaffen.

Maro, Verantwortlicher für Fahrzeugunterhalt & Assistenztrainer